pressto | Unveröffentlichtes 2019/20: ALMA

Zukunftsmusik? | Joachim Heintz gibt Einblicke ins Musizieren mit ALMA

Wenn man an Instrumente denkt, dann bestehen sie meist aus Hölzern, Metallen oder Kunststoffen. Mit Synthesizern oder computergenerierten Klängen haben neue Ansätze das Spektrum von Musik erweitert. ALMA ist ein Instrument, das in erster Linie aus Computercode besteht. Seine Funktionen sind nicht in der Form eines Holzkorpus oder der Länge und Dicke von Saiten angelegt, sondern in ihrer Programmierung. Ihr Softwarecode wählt zufällig Klänge aus; der Mensch, der ALMA spielt, bestimmt den Rahmen, in dem diese Klänge zu hören sind. Joachim Heintz hat ALMA geschrieben und arbeitet an der HMTMH als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Komposition. Er spielt ALMA seit etwa vier Jahren, immer im Duett mit anderen Musikerinnen und Musikern. Über ein zweioktaviges Keyboard lässt sich die Software bedienen. Für Joachim Heintz – selbst Pianist – war das naheliegend. Über einen Teil der Tasten lässt sich ein Zeitfenster auswählen, aus dem zufällig ausgewählte Sequenzen abgespielt werden. Auf anderen Tasten sind die unterschiedliche Modi hinterlegt, die auf die Sequenzen angewendet werden.

„Dadurch, dass ALMA eine Software ist, die ich selbst programmiere, hat sie natürlich ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten als ein traditionelles Instrument. ALMA trifft keine ästhetischen Entscheidungen, sie lernt auch nicht und erschafft nichts selbständig“, erklärt Joachim Heintz seine Schöpfung. Eine künstliche Intelligenz im Sinne des "machine learning" ist sie also nicht. Der Rahmen, in dem ALMA Entscheidungen trifft, ist im Software-Code festgelegt. Trotzdem gibt es im Spiel von und mit ALMA Überraschungen und gerade das macht das Musizieren mit ihr reizvoll.

Input von außen

Damit ALMA in ein Duett einsteigen kann braucht sie erst einmal klanglichen Input. Dafür werden über ein Mikrofon Tonaufnahmen ins System eingespeist. Alles Hörbare kommt dabei infrage: Musik, Umgebungsgeräusche, Sprache. „Der Input wird nicht einfach nur aufgenommen, sondern direkt analysiert und in Sequenzen zerlegt. Das Verfahren ist dasselbe unabhängig davon, ob ALMA mit Sprache oder Klängen konfrontiert wird. Die Bedeutungsebene von Sprache ist für ALMA nicht relevant“, so Joachim Heintz.

Es gibt zwei Arten von Input: Zum einen kann auf Aufnahmen zurückgegriffen werden, die bereits Teil des Systems sind, ähnlich wie in einer Audiothek. Die Auswahl kann während der Improvisations-Session nicht noch einmal geändert werden. Hinzu kommt Input, der während der Improvisation im Duett aufgenommen wird.

Die Auswahl des Inputs aus der Audiothek läuft bei Heintz etwa folgendermaßen ab: „Ich entscheide mich vor einer Improvisation für eine bestimmte Kombination der vorgefertigten Aufnahmen. Das ist eine Funktion, die ich auch erst später zu ALMA dazukam und zwar aus dem Bedürfnis heraus, in der Improvisation aus der Klanglichkeit bestimmter Improvisationssituationen auszubrechen. So kann ich je nach Improvisationssituation entscheiden, welche Aufnahmen ich in die Improvisation einbringe. Das Kriterium ist vor allem die Klanglichkeit. Semantik kann aber auch eine Rolle spielen. Aus diesem Klangensemble kann ich mich dann bedienen. Dadurch, dass ich potenziell auf ein eigenes kleines Klangensemble zurückgreifen kann, muss ich auch nicht immer nur reagieren sondern kann auch selbst Impulse geben und eine Improvisation beginnen.“

Ein berechneter Unberechenbarkeitsfaktor

Beim Spielen von ALMA verbinden sich bewusste Entscheidung und Unbestimmtheit. Für Heintz ist das besonders reizvoll und steht in der Tradition der Neuen Musik: „Ganz genau lässt sich nicht vorhersagen, welche Klänge man produziert. Das ist natürlich ein Unterschied zu traditionellen Instrumenten und eine andere Art, Musik zu produzieren als noch im 19. Jahrhundert. Aber in der Neuen Musik ist die ‚Indeterminacy‘ seit den 50er Jahren ein großes Thema. In der Elektronik und der Neuen Musik der letzten 70 Jahre ist das eine sehr vertraute Vorgehensweise. Man baut ein Programm und innerhalb des Programms gibt es Raum für bestimmte Zufallsentscheidungen.“ Letztlich bestimmt also der Code das Maß an Unbestimmtheit in der gemeinsamen Improvisation.

„Wenn man Zufall hört, denkt man schnell, alles sei egal. In der Musik ist das aber überhaupt nicht der Fall“, sagt Heintz und argumentiert mit dem „Williams-Mix“ von John Cage, „Die Vorgehensweise zur Entwicklung der Partitur war ein sehr komplexes ‚Programm‘ und führte zu einem detaillierten ‚Schnittmuster‘ für die Tonbänder. Diese Partitur übergab er an Techniker. Neben dem aufzunehmenden Klang waren auch Bearbeitungen in Tonhöhe, Lautstärke oder Klangfarbe vermerkt. In der Wahl, welche Klänge im Einzelnen aufgenommen wurden, lag die Umsetzungsfreiheit der Techniker. Wenn wir nur von der Partitur ausgehen, gibt es also unzählige Varianten von diesem Stück. Auch wenn die Auswahl der Klänge unterschiedlich ist, haben diese Variationen doch gleiche Charakteristika. Die Form ist entscheidend!“

Das ist bei ALMA nicht anders. In ihrem Code treffen Bestimmtheit, ästhetische Entscheidung, kompositorische Ideen, improvisatorische Reaktionen und bestimmte Unbestimmtheit aufeinander. „Was mir wichtig war, ALMA an Struktur mitzugeben, findet sich in den Modi“, betont Heintz.

Der Modus macht die Musik

Die Modi werden über Regler an der Keyboard-Tastatur ausgewählt. Die Codierung der Software steckt den Rahmen ab, in dem ALMA sich bewegt. Die Modi sind recht trennscharf, können sich aber überlagern. Joachim Heintz kann die Modi außerdem durch Arbeit am Softwarecode verändern. Aktuell hat er vier klangliche Ideen in Form von Modi umgesetzt. „Beim Spielen stellte ich fest, dass die Übergänge zu hart waren. Das habe ich über die Programmierung angepasst. Vielleicht kann ich es über Farben verdeutlichen: Anfangs hatte ich nur Rot und Blau, habe aber dann auch Farbtöne dazwischen eingebaut. Hörend lässt sich manchmal kaum sagen, welcher Modus welchen Klang letztlich bestimmt hat“, beschreibt er den Prozess.

Alma, die Zeitmaschine

Für Joachim Heintz ist ALMA ein Gedächtnis: „Sie spiegelt die Vergangenheit als neue Gegenwart. Die Spiegelung ist allerdings verzerrt. Für den Duo-Partner findet das Ganze in der Gegenwart statt. Ich glaube, viele Duo-Partner finden die Arbeit mit ALMA so spannend, weil man über den Input, den man ALMA gibt, auch eine so merkwürdige Weise mit sich selbst konfrontiert wird. Das, was man vor einer Minute gemacht hat, kommt in verfremdeter Form zu einem zurück und man spielt wieder damit. Die akustische Vergangenheit zur neuen Gegenwart zu machen, war meine Grundidee für Alma.“ Vielleicht sind Zeitreisen schon längst möglich, nur eben ganz anders als erwartet …

Sabine Hürthe

 

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Zuletzt bearbeitet: 26.04.2021

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